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April



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zitat

Freude und Leid waren schon
immer mit dem Begriff Liebe
untrennbar verbunden.

- Gottfried von Strassburg -

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Schöne Liebes-Erzählung, geschrieben von dem österreichischen Schriftsteller und Journalisten Joseph Roth.

April

Die Aprilnacht, in der ich ankam, war wolkenschwer und regenschwanger. Die silbernen schattenrisse der Stadt strebten aus losem Nebel zart, kühn, fast singend gegen den Himmel. Fein und dünngelenkig kletterte ein gotisches Türmchen in die Wolken. Die dottergelbe Scheibe der erleuchteten Rathausuhr hing wie an einem unsichtbaren Seil in der Luft. Um den Bahnhof roch es süss und trocken nach Steinkohle, Jasmin und atmenden Wiesen.

Die einzige Droschke der Stadt wartete, gleichgültig und bestaubt, vor dem Bahnhof. Die Stadt musste klein sein. Sie besass gewiss eine Kirche, ein Rathaus, einen Brunnen, einen Bürgermeister, eine Droschke. Das Pferd war braun, breithufig, trug rötliche Zottelmanschetten über den Fussgelenken und hatte keine Scheuklappen. Seine Augen glotzten gross und wohlwollend auf den Platz. Wenn es wieherte, neigte es den Kopf seitwärts, wie ein Mensch, der sich zum Niesen anschickt.

Ich stieg in die Droschke und überholte auf der Landstrasse alle wackelnden Hutschachteln und schwankenden Koffer mit den daran hängenden Menschen. Ich hörte, was die Leute einander sagten, und fühlte die Armut ihrer Schicksale, die Kleinheit ihres Erlebens, die Enge und Gewichtlosigkeit ihrer Schmerzen.

Über die Felder zu beiden Seiten der Strasse ergoss sich Nebel wie geschmolzenes Blei und täuschte Meer und Grenzenlosigkeit vor. Deshalb waren die Hutschachteln, die Menschen, die Reden, die Droschke so gering und lächerlich. Ich glaubte wirklich an das Meer zu beiden Seiten und wunderte mich über seine Stille.

Es ist vielleicht gestorben, dachte ich.

Der Schornstein einer Fabrik, der plötzlich neben einem weissen Häuserwinkel aufstieg, beängstigend trotz seiner Schlankheit, sah aus wie ein erloschener Leuchtturm.

Zufällige Menschen lagerten am Wegrand: Vorhuten der Stadt. Sie waren zutraulich und aufrichtig, ich konnte sehen, was in ihnen vorging: Eine Mutter wusch ihr Kind in einem Fasseimer. Das Gefäss trug einen blanken und grausamen Blechgürtel, und das Kind schrie. -

Ein Mann sass in seinem Bett und liess sich von einem Jungen einen Stiefel ausziehn. Der Junge hatte ein rotes, angestrengt-aufgedunsenes Gesicht, und der Stiefel war schmutzig. -

Eine alte Frau kehrte mit einem Besen auf den Dielen der Stube herum, und ich ahnte ihre nächste Tätigkeit; sie würde jetzt das blau-rote Tischtuch zusammenraffen, zum Fenster oder zur Tür gehen und die Speisereste in den kleinen Garten schütten. Ich hatte Mitleid mit dem Kind im Fasseimer, dem stiefelziehenden Jungen, den Speiseresten. Alte Frauen, die in der Nacht aufräumen, müssen schlecht sein.

Meine Grossmutter, die wie ein Hund aussah, kehrte immer in der Nacht mit dem Besen auf den Dielen umher. Ich war sehr klein, hasste die Grossmutter und den Besen und liebte Papierschnitzel, Zigarettenstummel und allerlei Abfälle. Ich rettete alles, was auf dem Fussboden lag, vor dem Besen der Grossmutter in meine Taschen. Ich liebte besonders Strohhalme. Von allen Dingen waren sie am meisten lebendig. Manchmal, wenn es regnete, sah ich zum Fenster hinaus.

Auf den Wellen einer der unzähligen Regenbächlein schwamm, tänzelte, drehte sich kokett und unbekümmert ein Strohhälmchen und ahnte nichts von dem Kanalschacht, dem es zutrieb, in dem es verschwinden würde. Ich rannte auf die Strasse, der Regen war schwer und wütend, er peitschte mich, aber ich lief den Strohhalm retten und erreichte ihn knapp vor dem Kanalgitter.

Viele Leute sah ich in der Nacht. In dieser Stadt gingen die Menschen vielleicht so spät schlafen, oder war es der April und die Erwartung, die in der Luft lag, dass alles Lebende wach bleiben musste? Alle, die mir entgegenkamen, hatten irgendeine Bedeutung. Sie trugen Schicksale, waren selbst Schicksale, sie waren glücklich oder unglücklich, keineswegs gleichgültig und zufällig; oder sie waren

zumindest betrunken. In kleinen Städten sind nachts keine zufälligen Menschen auf der Strasse. Nur Liebhaber oder Strassenmädchen oder Nachtwächter oder Wahnsinnige oder Dichter. Die Zufälligen und Gleichgültigen sind sicher zu Hause.

In der Mitte des Marktplatzes stand der Gründer der Stadt, ein steinerner Bischof, als gäbe er acht. So mittendrin ist er und so wichtig. Ich glaube, die Leute hielten ihn für tot und erledigt. Sie gingen an ihm vorbei und grüssten nicht; sie hätten sich nicht gescheut, Geheimstes in seiner Nähe zu sagen oder auch ein Verbrechen zu begehen. Wozu hielten sie ihn überhaupt noch?

Mir tat der Bischof leid, der sich gewiss so geplagt hatte, als er die Stadt
gründete. Er trug einen verkniffenen Zug um den Mund und sah ganz so
aus wie jemand, der die Undankbarkeit der Welt kennengelernt hat. Ich
versprach ihm in jener Nacht, fleissig in der Geschichte über ihn nachzulesen.
Aber ich kam nie dazu. Denn auch in dieser kleinen Stadt hatten die lebenden
Menschen Geschichten, die mir in den Weg liefen, mich umstellten und
einspannten. Und übrigens war es Frühling, und ich mag in solcher
Jahreszeit keine Bischöfe und keine Gründer.


Ich wusste schon am nächsten Morgen ein paar Geschichten.

Ich wusste, dass der Briefträger erst seit einigen Tagen hinke und keineswegs
von Geburt lahm sei. Er trank selten, zweimal im Jahr: an seinem Geburtstag,
das war der 15. April, und am Todestag seines Sohnes, der in der grossen
Stadt durch Selbstmord geendet hatte. Der Rausch war nachhaltig, und der
Briefträger taumelte drei Tage zwischen den Mauern des Städtchens herum,
ehe er nüchtern wurde. An diesen drei Tagen bekamen die Leute dieser Stadt
keinen Brief. Der Verkehr mit der Aussenwelt stockte.

Vor einer Woche, am 15. April, war der Briefträger in seinem Rausch gestürzt
und hatte sich ein Bein verrenkt. Davon kam sein Hinken. Das war nicht die
einzige Geschichte.


In diesem Hotel, in dem ich schlief, roch es nach Naphthalin, Moschus und
alten Kränzen. Der grosse Speisesaal hinter dem Schankladen war niedrig,
die Decke gewölbt, und die Wände trugen viereckige, braunhölzerne
Pflästerchen mit Sprüchen. Anna, das Mädchen, stützte den rechten Arm
auf das Fensterbrett und gab acht, dass die Krüge nicht leer wurden. Sie
wurden nie leer. Denn die Leute tranken hier nicht sehr viel Wein und
klapperten mit den Krugdeckeln, wenn Anna nicht aufpasste.

Anna war damals siebenundzwanzig Jahre alt und blond und glatt gekämmt.
Sie sah immer so aus, als wäre sie vor einer Weile aus dem Wasser gestiegen.
So straff und blank war ihr Gesicht, und so frisch und streng und feuchtblond
zogen sich ihre gesträhnten Haarsträhnen aus der Stirne.

Sie hatte schlanke, kräftige, aber schüchterne Hände, von denen ich immer
glaubte, dass sie sich schämen.

Anna stammte aus Böhmen und liebte den Ingenieur. Der Ingenieur war der
Betriebsleiter jener Fabrik, in der Annas Vater arbeitete. Anna hatte ein Kind
von dem Ingenieur.

Der Ingenieur hatte geheiratet und Anna Geld gegeben fürs Kind und für die
Reise. So war Anna Kellnerin in dem kleinen Städtchen. Ich trat einmal zufällig
in Annas Zimmer und sah die Photographie ihres Kindes. Es war ein schönes
Kind, es griff mit runden Fäusten in die Luft und trank die Welt mit grossen
Augen. Anna war schweigsam und erzählte ihre Geschichte sehr kurz.

Ich mag Ingenieure dieser Art nicht und liebte Anna.

"Sie lieben ihn immer noch?" fragte ich Anna.

"Ja!" sagte sie. Sie sagte es so selbstverständlich und trocken wie irgendeine
geschäftliche Auskunft.


In dem Städtchen gab es ein Kinotheater. Der Besitzer war ein jüdischer
Tuchwarenhändler. Er hatte ein Kino gegründet, weil er tüchtig und
betriebsam war und es ihn schmerzte, dass er einen ganzen Sonntag
nichts zu tun haben sollte. Er verkaufte daher an Wochentagen Tuchwaren
und liess Sonntag im Kino spielen.

Ins Kino ging ich mit Anna.

Im Städchen gab es eine Bibliothek. Der junge Mann, der Besucher zu bedienen
und, wenn niemand da war, Staub aufzuwischen hatte, war blass, romantisch
blass und dünn wie ein auferstandener Dichter und hatte eine blond-gelbe
Schopflohe, die von seinem Kopf gegen den Suffit flackerte. Er stand immer
auf einer Doppelleiter, er spazierte mit der Doppelleiter hinter dem Ladentisch
herum, er konnte es vortrefflich, besser als jeder Zimmermaler. Als hätte er
überhaupt nur auf Doppelleitern gehen gelernt. Die Leihbibliothek hatte auch
alte, gute Bücher, und ich ging mit Anna in die Leihbibliothek.

Anna freute sich sehr.

Manchmal wusste ich, dass Anna zärtlich sein könnte. Ich liebte die Frauen,
deren Güte wie ein verschütteter Quell, unsichtbar fruchtlos, aber unermüdlich,
jedesmal gegen die Oberfläche anströmt und, weil ein Ausweg nicht möglich,
nach der Tiefe gedrängt, verborgene Schächte gräbt und gräbt bis zum
Versiegen.

Ich liebte Anna. Ich konnte ihren Reichtum nicht lassen. Sie wusste nicht,
wieviel ihr verlorenging, wenn sie so daherschritt, rückwärts lebend, jede
andere Sehnsucht ausschaltete und nur die nach Vergangenem trug und
pflegte.

Ich habe noch nicht vom Park erzählt, in dem die Liebe dieser Stadt blühte.
Der Goldregen wucherte leichtsinnig und liederlich zwischen Linden und
Kastanien. Die Bänke standen nicht in den Alleen, sondern mitten auf den
Beeten. Ich dachte, diese Bänke hätte der Bischof, als sie noch ganz jung
waren, in die Erde gepflanzt, und sie wuchsen immer jedes Jahr um ein
Stückchen in die Breite. die Füsse hatten sicherlich schon Wurzel gefasst
im lockeren Boden.

Am Sonntag nach dem Kino ging ich mit Anna in den Park.

Einmal sahen wir, wie zwei sich küssten, und Anna lachte.

"Es ist nicht gut, Anna", sagte ich, "über die Liebe zu lachen. Ich mag
Menschen nicht, die so lügen können."

Da hörte Anna zu lachen auf.

Als wir nach Hause kamen, erwies es sich, dass der Wirt Anna gesucht hatte,
denn es war ein Gast gekommen. Er hatte einen knarrenden, neuen
Lederkoffer mit vielen grünen und roten Heftpflästerchen. Er war schwarz
gelockt und glutäugig, und er konnte gewiss Mandoline spielen und Mädchen
verführen. Hätte ich in seine Brieftasche einen Blick tun können, so hätte ich
eine ganze Sammlung bunter Schleifen und blonder Haare und rosa
Liebesbriefe gesehn. Aber ich kam nicht dazu und wusste es auch so.

Er trank Bier in der Wirtsstube. Das Bier passte nicht zu seinem Gesicht, er
hätte Wein trinken müssen. Er liess sich von Anna bedienen und war sehr
höflich. Er sprach lauter Schnörkel. Seine Worte sehen aus wie seine
Unterschrift wahrscheinlich, dachte ich.

In dieser Nacht bemerkte ich, dass mein Licht fehlte. Ich machte die Tür auf
und ging zu Anna in die Stube. Anna war im Hemd und weinte. Sie blieb auf
ihrem Bett sitzen und erschrak nicht, als ich kam, sondern weinte ruhig und
mit Ausdauer weiter.

Dann sagte sie: "Er sieht genauso aus!"

Der neue Gast sah genauso aus wie Annas Ingenieur.

"Es ist schrecklich!" sagte Anna.

Seit damals liebten wir uns und verbargen es nicht voreinander. Anna konnte
sehr zärtlich sein und eifersüchtig auch. Aber ich kümmerte mich nicht um die
Frauen. Die Frauen dieser Stadt gefielen mir gar nicht.

Nur wenn ich sah, wie sie an goldumrahmten Frühlingsabenden über die Felder
wanderten, ein Paar ums andere, rührten sie mich. Sie waren dazu da, die Welt
zu erneuern. Sie wuchsen, liebten und gebaren. Im Frühling begannen sie ihr
mütterliches Werk und vollendeten es im Laufe der Jahre. Ich sah, wie sie,
berauscht und mit Appetit auf Rausch, harmlos und beflissen, Gottes Gebot zu
erfüllen, wie Maikäfer in die Wälder ausschwärmten.

Spät in der Nacht noch standen sie in den dunklen Hausfluren, klebten sie an
den Lippen und Schnurrbärten der Männer, kicherten und waren dankbar bis
zur Demut für jedes gute Wort, das man ihnen in den Schoss warf. Schön
waren die Nächte, in denen die Grillen und die Mädchen unermüdlich zirpten.

Und die Regentage auch.

Die Mädchen standen in den Fenstern und lasen in Büchern aus der
Leihbibliothek und assen Butterbrot. Ein Regenschirm schwankte durch die
Gasse und überdachte den zierlichen, dünnen Notariatsschreiber. Er sah aus
wie eine aufrecht gehende Heuschrecke.

Strohhalme tänzelten, wirbelten, drehten sich kokett und schwammen
ahnungslos dem Verderben der Kanalgitter zu. Ich lief nicht mehr, sie
aufzuhalten. Immer dachte ich, dass ich es doch tun müsste. Der Regen, die
Harmlosigkeit des Strohhalms, das Kanalgitter und ich gehörten zusammen.
Vielleicht war auch noch der Notariatsschreiber dabei. Der Regentag war grau
schraffiert, der Strohhalm ertrank, das Kanalgitter verschluckte ihn, der
Notariatsschreiber stocherte schirmüberdacht durch die Gasse. Und ich hätte
eigentlich laufen müssen, den Strohhalm retten. Jedes in der Welt hat seine
Aufgabe.

Sehr früh am Morgen stand ich täglich auf. Anna schlief noch, und der Wirt
und der zweite Gast. Die Stiefel der Hausbewohner standen, noch nicht
gereinigt, ein Stück Gestern, vor den Türen. Im Hof pendelte der Pudel,
gähnte und suchte nach vergessenen Knochen unter der Hoteldroschke,
die, unbespannt, mit einer zwecklosen Deichsel, vor dem Schuppen wartete
wie ein ausgegrabenes Gefährt.

Jakob, der Kutscher, schnarchte im Schuppenbau, brünstig und stark; er
schnarchte einen Hymnus auf Natur und Gesundheit. Es war gar nicht
lächerlich, sein Schnarchen. Es klang selbstverständlich und machtvoll; ein
Naturlaut, ein verhülltes Donnerrollen, ein Hirschröhren. Um fünf Uhr erhob
sich ferne und wie aus übersinnlichen Welten heranschwellend das klagende
Tuten der Dampfmühle und weckte Jakob, den Kutscher. Er musste in den
Kleider geschlafen haben, denn er kam, gleichzeitig mit dem letzten,
verzitterten Oberton der Mühlensirene, in seiner grosskarierten Ärmelweste,
in Hosen und bestiefelt, barhaupt, mit einem zerknitterten Pergamentgesicht,
sprudelte aus trichtergeformtem Munde Wasser auf seine gekrümmten
Handflächen und rieb sich Stirn und Augen. Dann ging er quer über den Hof
ins Haus, schwer und mühevoll, als müsste er jedes Bein wie einen Baum mit
Wurzeln aus der Erde ziehn.

An der ersten Strassenbiegung klinkte Käthe ihr Fenster auf und sah hinunter
in die Stadt. Ich grüsste Käthe immer. Ich hatte noch nie mit ihr gesprochen,
ich hatte gar nichts mit ihr zu sprechen, ich grüsste sie nur, weil sie aus dem
Fenster sah und weil die Welt so früh am Morgen noch nicht konventionell war,
sondern einfach wie in den ersten Tagen ihrer Kindheit, ein paar Jahre nach
der Erschaffung, als noch im ganzen zwanzig Menschen sie belebten und alle
zwanzig freundlich und gut miteinander waren. Später, wenn ich heimkehrte,
war's Mittag bereits, die Welt um alle Jahrtausende älter, und ich grüsste nicht
mehr, weil es sich nicht schickte, in einer so fortgeschrittenen Welt ein
Mädchen zu grüssen, mit dem man noch nie gesprochen.

Durch den Park knirschte ein rundbäuchiger Spritzwagen, Rasen und Beete
berieselnd. Eine Amsel sprang mit Gassenbubengebärden neben dem Wagen
her und schlug mit dem linken Flügel gegen die zerstäubenden Wassertropfen.
Unsichtbar lärmte irgendwo oben ein ganzes, in die Ferien geschicktes
Lerchenpensionat. Rund um die Bänke, die in der Mitte der Beete standen,
war das Gras ein wenig müde und hergenommen von der nächtlichen Liebe
der Menschen. Und mir entgegen schritt der lange Eisenbahnassistent durch
den Park in den Dienst.

Den Eisenbahnassistenten hasste ich. Er war sommersprossig, unglaublich
lang und gerade. Ich dachte, sooft ich ihn sah, an einen Brief an den
Eisenbahnminister. Ich wollte vorschlagen, den hässlichen
Eisenbahnassistenten als Telegraphenstange unterwegs irgendwo zwischen
zwei kleinen Stationen zu verwenden. Nie hätte mir der Eisenbahnminister
diesen Dienst erwiesen.

Ich wusste nicht, warum ich den Beamten so hasste. Er war aussergewöhnlich
gross gewachsen, aber ich hasse ja nicht grundsätzlich das Aussergewöhnliche.
Mir schien, dass der Eisenbahnassistent mit Absicht so hoch hinaufgeschossen
sei, und das reizte mich auf. Mir schien, als hätte er seit seiner Jugend nichts
anderes getan als wachsen und Sommersprossen sammeln. Und ausserdem
hatte er rötliche Haare.

Auch trug er immer seine Uniform und eine rote Kappe. Er machte langsame
und kleine Schritte, obwohl er mit seinen langen Beinen ganz gut rasch hätte
gehen können. Aber er ging langsam und wuchs, wuchs, wuchs.

Ich weiss noch heute sehr wenig über den Eisenbahnbeamten. Aber ich hätte
damals schon schwören können, dass er viele versteckte Gemeinheiten
begangen habe.

Solch ein Eisenbahnassistent konnte zum Beispiel einen Zug, in dem sein
persönlicher Feind sass, zu einem Zusammenstoss bringen und die Schuld
geschickt auf den Zugführer schieben. Es war eigentlich gefährlich, mit der
Eisenbahn zu fahren.

Solch ein Eisenbahnassistent, dachte ich, ist niemals imstande, einer Frau
wegen auf seine rote Kappe zu verzichten. Wenn er liebte, so legte er bestimmt
die Kappe mit der Öffnung nach oben sorgsam auf einen Stuhl. Er vergass
nicht, die Hose im Bug zusammenzufalten, und verstand gewiss nicht die Lust,
einer Frau dankbar zu sein. Er konnte auch Frauen durch eine List überrumpeln.
Und eifersüchtig war er auch.

Sooft ich ihn sah, dachte ich über einen Brief an alle Frauen der Welt:
Frauen! Hütet euch vor dem Eisenbahnassistenten!

Anna mochte den Eisenbahnassistenten auch nicht. Anna fragte:
"Warum hasse ich ihn?"

Ich wusste nicht, wie ich Anna antworten sollte, und erzählte ihr die
Geschichte von Abel, meinem Freund, und der Frau seines Lebens.


Abel, mein Freund, sehnte sich nach New York.

Abel war Maler, Karikaturist. Er hatte bereits karikiert, als er noch nicht einen
Bleistift halten konnte. Er achtete die Schönheit gering und liebte Krüppelei
und Verzerrtheit. Er konnte keinen geraden Strich zustande bringen.

Abel achtete die Frauen gering. Männer lieben in einer Frau die Vollkommenheit,
die sie zu sehen sich einbilden. Abel aber leugnete die Vollkommenheit.

Er selbst war hässlich, so dass ihn die Frauen liebhatten.

Frauen vermuten Vollkommenheit oder Grösse hinter männlicher Hässlichkeit.

Einmal gelang es ihm, nach New York zu fahren. Auf dem Schiff sah er zum
erstenmal in seinem Leben eine schöne Frau.

Als er im Hafen landete, verschwand ihm die schöne Frau aus den Augen.
Da kehrte er mit dem nächsten Schiff nach Europa zurück.

Anna konnte den Zusammenhang zwischen Abel, meinem Freund, und dem
langen Eisenbahnassistenten nicht begreifen.

"Warum erzählst du mir von Abel?" fragte sie.

"Anna", sagte ich, "alle Geschichten hängen zusammen. Weil sie einander
ähnlich sind oder weil jede das Entgegengesetzte beweist. Zwischen dem
langen Eisenbahnassistenten und meinem Freund Abel ist ein Unterschied.
Ein sehr banaler Unterschied: Abel, mein Freund, geht zugrunde, aber der
Eisenbahnassistent wird leben und Stationsvorstand werden. Abel, mein
Freund, hat eine Sehnsucht. Nie wird der Eisenbahnassistent eine andere
Sehnsucht haben als die, Stationsvorsteher zu werden. Abel, mein Freund,
lief aus New York fort, weil er die Frau seines Lebens aus den Augen
verloren hatte. nie, wird der Eisenbahnassistent einer Frau wegen aus
New York fortlaufen."

Ich war überzeugt, dass Anna nun den Zusammenhang verstehe. Anna
aber umarmte mich und fragte: "Würdest du meinetwegen aus New York
weglaufen?"

In dieser Nacht liebte ich Anna sehr, weil ich wusste, dass ich ihretwegen
nie aus New York weglaufen würde. ich fürchtete, es ihr zu sagen, und
liebte sie dafür. Ich war feige und führte mich sehr männlich auf. Anna
verstand mich aber und weinte. Jetzt sehe ich aus wie der Ingenieur,
dachte ich.

Am Morgen schlief Anna, als ich fortging. Sie fühlte, dass ich aufgestanden
war, und suchte, schlafend noch, mit schwachen Armen in der Leere herum.

Es regnete, deshalb ging ich ins Kaffeehaus.

Der Kellner trug einen zerknitterten Frack und eine schwere Juchtenledertasche
an der rechten Hüfte. Er hiess Ignatz, und jeder nannte ihn so. Er hatte keinen
anderen Namen. Nur ich sagte: Herr Ober!

Ignatz hatte Tag und Nacht Dienst. Er schlief auf zwei Stühlen im Kaffeehaus,
und davon kam der zerknitterte Frack. Die Geldtasche schnallte er niemals
ab. Er war an beiden Seiten etwas plattgedrückt, wie ein Fisch. Seine Arme
hingen, wie bekleidete Rückenflossen, schlaff hinunter. Und ausserdem
hatte er grosse graugrüne Fischaugen und kalte, feuchte Hände. Er wischte
sie immer an der Ledertasche ab. Ich mochte Ignatz nicht, denn er wollte
kein Kellner sein. Er las alle Zeitungen und sprach mit den Gästen von
Politik. Er wollte lieber Politiker sein.

Aber er blieb Kellner und war unzufrieden.

Er sah immer so aus, als gäbe er den Gästen die Schuld an seiner
verpfuschten Karriere.

Er nahm Trinkgeld und dachte sehr kühl.

Einmal kam ich mit Anna ins Kaffeehaus, und Ignatz sagte:

"Wie geht es, Fräulein Anna?" und wischte sich die rechte Hand an der
Ledertasche ab, um Anna mit einer trockenen Hand zu begrüssen.

"Wie geht's Ihnen, Ignatz?" fragte Anna und gab ihm die Hand.

Weil Ignatz die Hand zu lange behielt, sagte ich: "Herr Ober!" Da grüsste
Ignatz und ging.

Im Kaffeehaus hing ein grosser Wandkalender.

Jeden Morgen um acht Uhr kam der Postdirektor, ein alter Herr mit weissem
Backenbart. Der Postdirektor ging sehr aufrecht und hatte überlange Hosen an
und Sporen an den Stiefelabsätzen, vielleicht, um den Hosenrand zu schonen.
Er hatte gewiss bei der Artillerie gedient.

Der Postdirektor hatte so unwahrscheinlich tiefblaue, gute Augen, dass ich
glaubte, er hätte sie bei einem Optiker eigens für sich machen lassen. Auch
sein Backenbart war so märchenhaft weiss. Der Postdirektor puderte seinen
Backenbart vielleicht, jeden Morgen oder vor dem Schlafengehen.

Jeden Morgen riss der Herr Postdirektor einen Zettel vom Wandkalender im
Kaffeehaus ab. Ignatz hätte das ganze Jahr den 1. Januar sein lassen. Aber
der Postdirektor achtete darauf, dass jeder Tag seinen Namen uns seine
Nummer habe.

Ich liebte den Postdirektor.

Der Park, in dem die Liebe blühte, lag nicht in der Mitte, sondern am Ende der
Stadt. Er lief hinaus in die Wiesenwege. Am Ausgang war ein Gasthaus, in dem
ich Nachtmahl ass. Gegenüber war die Postdirektion. Die Post war ein neues
Gebäude, in einem schneeweissen Kalkgewande; es trug ein Wappen an der
Stirn und am doppelflügeligen, grünen Haustor ein rundes Posthorn. Die Post
war das einzige Haus mit zwei Stockwerken in dem Städtchen.

Im zweiten Stockwerk wohnte der Herr Postdirektor.
Immer stand ein Fensterflügel offen im zweiten Stockwerk. Ich dachte: Dort,
wo das Fenster offensteht, wohnt der Herr Postdirektor.

Er muss jedesmal in den Himmel sehn, damit seine Augen blau bleiben. Der
Herr Postdirektor, dachte ich, ist ein kinderloser Herr, und er hat eine alte
Frau mit weissem, gescheiteltem Haar. Sie sprechen nur am Abend miteinander,
der Postdirektor und die Frau.

Immer sass ich im Gasthaus so, dass ich das offene Fenster sehen konnte.
Vielleicht kommt einmal der Herr Postdirektor in den Himmel schaun - hoffte ich.
Aber er kam selten. Eines Tages setzte sich ein wunderschönes Mädchen ans
Fenster und sah in den Himmel.

Ich erschrak über die Schönheit und sah so plötzlich zum Fenster des Gasthauses
hinaus und zu dem Mädchen empor, dass sie es fühlte und mich ansah. Weil ich
verlegen wurde, grüsste ich. Sie grüsste auch. Nun kam sie täglich ans Fenster.

Ich pflanze meine Erlebnisse wie wildes Weinlaub und sehe zu, wie sie wachsen.
Ich bin faul, und das Nichts ist meine Leidenschaft. Dennoch lebte ich seit der
Stunde, in der ich das Mädchen am Fenster gesehen hatte, in einer steten
Spannung, die ich nur noch aus meiner Knabenzeit kannte. Damals war ich noch
Teil der Welt, Strohhalm im Strom des Geschehens, schwimmend und fortgerissen.
Ich weinte über den Verlust einer Papiertüte, einer Nutzlosigkeit. Seitdem ich alt
bin, weine ich nicht mehr und lache nicht. Niemand kann mir ein unmittelbares Leid
zufügen. Über Schmerz und Freude bin ich hinausgewachsen.

Nun aber lebte ich Schmerz und Freude und sank tief in die Kleinigkeiten.

Das Mädchen sah jeden Tag zum Fenster hinaus, wenn ich vorbeiging. Jeden
Tag grüsste ich. Am dritten Tag lächelte sie.
An ihrem Lächeln lernte ich, dass es nichts Geringfügiges gibt unter der Sonne.
Ihr Lächeln am dritten Tag war ein grosses Ereignis.
Ihr Gesicht war blass und klein. Ihre schwarzen Augen blank, wie geputzt. Ihr
Haar glatt und rückwärts gekämmt. Ihre Schultern schmal und furchtsam.
Auch wenn es regnete, sah sie zum Fenster hinaus, und das Fenster war offen.
Ich sass im Wirtshaus, und die Fensterscheibe war von der Regenkälte
angelaufen. Ich musste das Glas jedesmal blank wischen. Jedesmal lächelte
das Mädchen.

Einmal sassen zwei Männer an dem Tisch in der Fensterecke des Wirtshauses,
und ich ass nicht, sondern ging hinaus und wanderte vor dem Wirtshaus auf
und ab und war lächerlich wie ein Nachtwächter. Ich hatte den Mantelkragen
hochgeschlagen und ging langsam, mit grossen Schritten. Von meinen Kleidern
tropfte es. Die Leute standen im Haustor des Postgebäudes oder in der Einfahrt
des Wirtshauses und warteten, bis der Regen aufhören würde. Wenn es blitzte,
fuhren sie ein bisschen zusammen und hörten auf zu reden. Manchmal sahen
sie mich an. Ein junges Weib vom Lande, in Holzpantoffeln und mit aufreizend
prallen Brüsten, die hinter der regenfeuchten Bluse fortwährend zitterten vor
Kälte und Erregung, rückte einmal auf der Schwelle zur Seite, zupfte mich am
Ärmel und wies auf den freien Platz. Ich aber ging weiter, und oben lächelte
das Mädchen.

Die Menschen sahen zum Fenster hinauf und lachten. Das junge Weib lachte
auch. Ich sah mich um, da waren sie alle verlegen, vielleicht hielten sie mich
für verrückt.

Von diesem Vorfall lebte ich eine ganze Woche lang. Ich erzählte Anna von
dem Mädchen, und Anna lachte mich aus. "Warum lachst du?" sagte ich.
"Ich liebe das Mädchen am Fenster."

"Warum gehst du nicht zu ihr hinauf?"

"Ich will's tun!"

"Nein, tu's nicht!" bat Anna. "Vielleicht liebst du sie wirklich."

Ich werde niemals vergessen, wie eines Tages der Postdirektor neben dem
Mädchen am Fenster stand. Ich grüsste, und der Postdirektor grüsste wieder.
So selbstverständlich, als wäre ich sein guter Freund.
Das Mädchen war seine Nichte, sagte mir Anna.
Ich beschloss zum Postdirektor zu gehn.
Aber es dauerte zwei Wochen, und ich ging noch immer nicht. Ich wollte sagen:
Verehrter Herr Postdirektor, ihre Augen und Ihre Sporen und selbst ihre
überlange Hose habe ich gern. Dieses Mädchen liebe ich aber. Ich glaube,
sie ist die Frau meines Lebens. Ich will sie nicht verlieren wie Abel, mein
Freund.
Und dann würde ich die Geschichte von meinem Freund Abel erzählen.
Der Postdirektor würde lächeln und aufstehn, und seine Sporen würden leise
klirren, so wie kaum erwachsene silberne Tschinellen, die erst ordentlich
klingen lernen müssen.
Das Mädchen würde meine Geschichte verstehen und nicht fragen wie Anna.
Das Mädchen ist überhaupt ganz anders.
Ich wüsste auch, was ich dem Mädchen zu sagen hätte.

Ich fuhr in die grosse Stadt, um mir selbst Geld zu schicken, und schrieb meinen
Namen verkehrt und nur den Anfangsbuchstaben meines Vornamens. Dann kam
ich zurück und wartete auf das Geld.

Der Briefträger kam und war sehr aufgeregt, wei er das letzte Mal vor zwei Jahren
Geld gebracht hatte. Das war schon lange her, und er wiederholte rasch die
Vorschriften und verlangte meine Papiere. Er behielt die Kappe auf dem Kopf,
während er im Zimmer stand, denn er war im Dienst.

Er wollte mir das Geld geben, aber ich sagte:
"Mein Name ist verkehrt geschrieben."
"Das tut nichts", sagte der Briefträger.
"Oh, doch!" sagte ich. "Tragen Sie das Geld zum Herrn Postdirektor, und fragen
sie ihn, ob sie mir das Geld geben dürfen."

Später sass ich zehn oder fünfzehn Minuten lang beim Herrn Postdirektor. Aber
wir sprachen nur von meinem Geld, und er sagte, dass er gar nicht zweifle; ich
wäre der rechtmässige Empfänger. In dieser Stadt hat noch nie jemand so oder
ähnlich geheissen.

"Ja, es ist eine sehr ruhige kleine Stadt", sagte der Herr Postdirektor, und er
wollte mir eigentlich damit ein Kompliment machen. Es war, als sagte er:
Wo denken Sie hin! Einen so schönen, lauten Namen wie sie trägt keiner
hier.
Seine Sporen klangen leise, wie kaum erwachsene Tschinellen, und alles
war eigentlich so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nur von dem Mädchen am
Fenster war nicht die Rede.

Als ich draussen stand, sah ich zum Fenster hinauf. Am Fenster stand der Herr
Postdirektor. Ich grüsste ihn noch einmal, und er nickte. Ich glaubte, damals
wäre der geeignete Augenblick gewesen, noch einmal hinaufzugehen und
von dem Mädchen zu sprechen. Aber gerade die geeigneten Augenblicke
auszunützen, bin ich niemals imstande.

Alles im Leben wird alt und abgenutzt: Worte und Situationen. Alle geeigneten
Augenblicke sind schon dagewesen. Alle Worte sind schon gesprochen worden.
Ich kann nicht Worte und Situationen wiederholen. Es ist, als trüge ich immerfort
abgelegte Kleider.

Am Abend jenes Tages stand das Mädchen nicht am Fenster. Ich beschloss
abzureisen.
Ich ging ins Hotel und packte meinen Koffer. Anna kam und fragte:
"Wie lange wirst du fortbleiben?"

Nie wäre es ihr eingefallen, dass ich für immer verreisen könnte.

"Zwei Tage!" sagte ich und fühlte nicht die Spur von Reue über diese Lüge.
Was war eine Lüge Anna gegenüber? Das Mädchen am Fenster war nicht
mehr da, und bei dem Postdirektor hatte ich den geeigneten Augenblick
nicht ausgenützt.

"Warst du beim Postdirektor?" fragte Anna.

"Ja!" sagte ich. "Aber das Mädchen vom Fesner sah ich heut nicht mehr."

"Sie wird krank sein!" sagte Anna.

"Krank? - Warum sagst du das?"

"Sie ist krank! Weisst du das nicht? Sie ist überhaupt krank! Schwindsüchtig
und lahm. Deshalb geht sie auch niemals auf die Strasse. Sie wird bald sterben!"

Anna sprach das alles sehr schnell. Ihre Worte schlugen Purzelbäume.

Dennoch hörte ich jede Silbe, scharf und trocken. Diese Silben gruben sich in
mein Hirn wie harte Münzen in eine schmelzende Wachsplatte. Ich sah Anna,
wie sie dastand, mit straff zurückgekämmtem Haar, blank, als wäre sie eben
aus dem Wasser gestiegen. Anna wird nicht sterben! dachte ich.

Das Mädchen am Fenster wird sterben! wird sterben! wird sterben!

Nie werde ich mit ihr sprechen. Deshalb also hatte ich den geeigneten Augenblick
nicht ausgenutzt. Nicht, weil ich geeignete Augenblicke nicht leide, sondern weil
das Mädchen krank ist.

"Anna!" sagte ich: "Nun geh' ich für immer fort."

"Weil sie krank ist?" lachte Anna.

"Ja!"

"Aber ich bin gesund!" sagte Anna.

In diesem Augenblick hatte sie das Gesicht einer Triumphierenden. Es war blass
und kalt.

"Ich gehe mit dir zur Bahn!" sagte Anna.

Anna ging mit mir zur Bahn.
Ein Zug kam an, und ich wollte gerade zum Fahrkartenschalter. Da kam der
Reisende wieder und grüsste. Er hatte einen knarrenden Lederkoffer und
roch nach Pomade.

Anna griff krampfhaft nach meinem Arm, und ich blieb stehen.

"Du, fahr nicht!" sagte Anna.

Sie glich nicht mehr einer Triumphierenden. Sie sah aus wie ein armes,
verstörtes Tier, wie ein in die Enge getriebenes, umstelltes Eichhörnchen
auf einem grausamen baumlosen Acker.

Der Reisende trat auf mich zu, sagte: "Ergebenster!" und "Guten Abend!"
und: "Sind wohl auch angekommen? Oder verreisen jetzt?"

"Nein!" sagte ich. "Soeben angekommen!" - und ging mit Anna in die Stadt
zurück.

Ich schlief die ganze Nacht nicht, denn ich dachte an das sterbende Mädchen.
Seitdem ich wusste, dass sie bald tot sein würde, fühlte ich mich sicher in
meiner Macht über sie. Ich hielt sie fest, ich konnte ihre Hände greifen. Sie
war in meinen Besitz übergegangen.

Ich dachte gar nicht daran, dass sie auch früher schon krank gewesen. Für
mich war sie es eben erst geworden. Sie wird sterben, dachte ich, und es war
mir wie einem, der weiss, dass man in einer Stunde kommen wird, um ihm einen
Gegenstand zu pfänden, den er liebt.

Den ganzen nächsten Morgen schritt ich auf und ab vor dem Postgebäude. Der
Herr Postdirektor kam jede Stunde einmal ans Fenster, sah mich und wunderte
sich gewiss. Er ging um die Mittagszeit aus dem Hause, ich grüsste ihn, und er
erwiderte und wunderte sich. Dann, um drei Uhr nachmittags, kam er zurück,
und ich ging immer noch auf und ab vor dem Hause. Ich ging hin und zurück,
bewusstlos wie ein Uhrpendel und getrieben von einem unbekannten Räderwerk.

Am Abend setzte ich mich ins Wirtshaus und sah hinaus: Das Fenster im
Postgebäude ging auf, und sie kam.

Sie grüsste zuerst und etwas hastig, schien mir. Sie hatte wahrscheinlich geglaubt,
ich würde heute nicht mehr warten, weil sie gestern krank gewesen war. Ich sah
nur kurz hinauf, und in meinen Augen lag eine lange Rede.

Wenn ich drei Tage ununterbrochen gesprochen hätte, ich hätte ihr gar nicht
so viel sagen können.
Ich war ganz dumm und knabenhaft aufgeregt. Sie verstand, schien mir, was ich
gesagt hatte. Dann klinkte sie das Fenster zu, als es stärker dunkelte, im Zimmer
floss plötzlich helles Licht, und die Gardinen schlossen sich. An der weichen,
hellen Gardinenfläche zeichnete sich der Schatten eines grossen Mannes ab.
Es war nicht der Herr Postdirektor, denn der Schatten des Postdirektors hätte
einen Backenbart gehabt. Es war ein bartloser Mann. Vielleicht der Bruder.

Ich ging noch eine Stunde durch den Park. Die Menschen liebten sich immer noch
auf den Bänken und Beeten. Ich begegnete mehreren Frauen, die mit losen
Haaren und mit einer fremdartigen Ausgelassenheit verlorener und berauschter
Menschen auf den Kieswegen, ziellos scheinbar, wanderten. Ihr Gang war so
taumelnd und dennoch erregt-lebendig. Sie nahmen sich aus wie Kreisel, die
früher einmal von irgendeiner fremden Kraft in rastloses Rotieren versetzt
worden waren und nun, da die Wirkung dieser unbekannten Macht erschöpft
ist, immer noch im nachhaltenden Zauber des rotierenden Schwunges befangen,
aber müde, ihre letzten flatternden Runden vollziehen und nach einem äusseren
Stützpunkt oder dem eigenen Gleichgewicht vergeblich suchen.
Alle diese, dachte ich, sind gesund und werden nicht sterben.

Ich traf Anna in ihrem Zimmer, wie sie im Hemd am Bettrand sass und weinte.
Sie hielt die Hände nicht nach der Art weinender Menschen vor das Angesicht.
Es schien, dass ihr unermüdliches, mit Landregengleichmass und stetig
rinnendes Weinen nicht aus ihrer Seele kam, sondern wie von aussen her;
etwas Fremdes, Plötzliches, Überfallendes, gegen welches sich zu wehren
nutzlos, das zu verhüllen ohne Zweck war.

In dieser Nacht liebte ich Anna wie zum ersten Male, mit der Zärtlichkeit und
der Freude, mit der man einen ganz neuen Besitz umhüllt.

Am nächsten Morgen erlebte ich die letzte Geschichte dieses Städtchens.

Sehr früh sass der Reisende schon im Kaffeehaus und ass Kuchen. Er ass
nicht mit der Hand, sondern umständlich mit Messer und Teelöffel, denn der
Reisende war ein feiner Mann und wusste sich zu benehmen. Er ass sehr lange
an seinem Kuchen. Dann stand er auf, ging zum Wandkalender und riss das
Datum von gestern herunter, entschieden und so, als schüfe er das Heute,
den neuen Tag, stolz und machterfüllt wie ein Gott. Mir bangte vor der Ankunft
des Postdirektors.

Der Herr Postdirektor riss seit Jahrzehnten die alten Tage ab und entschleierte
die neuen, behutsam und demütig, nicht wie ein Gott, sondern wie ein Diener
Gottes. Heute würde er entsetzt nach dem Wandkalender sehen, irre werden
in den Wochentagen und Daten und die Welt nicht mehr verstehen.

Deshalb hob ich den zerknitterten Zettel auf, glättete ihn und brachte ihn, so gut
es ging, wieder am Wandkalender an.

Der Reisende sah mir zu und sagte: "Mein Herr, heute ist der 28. Mai!" Ich
erschrak fast, so laut sagte er das Datum dieses Tages, und obwohl es eine
sehr einfach Sache war und alle Welt es wissen musste, schien mir, als hätte
der Reisende ein scheues Geheimnis mit unverschämter Roheit ausgebrüllt.

Der 28. Mai!

In diesem Augenblick schlug die Turmuhr halb acht, der Herr Postdirektor trat
ein, seine Sporen klirrten leise und übermütig, sie kicherten, und der Herr
Postdirektor ging feierlich an den Wandkalender und enthüllte den neuen Tag.
Erst jetzt war's der 28. Mai geworden!

Dieser 28. Mai wurde einer der wichtigsten Tage meines Lebens. Ich beschloss
nämlich abzureisen.

Was hätte ich auch länger tun sollen in diesem Städtchen? Das Mädchen am Fenster
musste sterben, Anna tat mir weh, ihr Anblick schmerzte mich, und ich konnte ihr nicht
helfen. Den Briefträger kannte ich schon auswendig, und das silberne Sporenklimpern
des Herrn Postdirektor auch. Käthe, dachte ich, wird jeden Morgen um die gleiche
Stunde ihr Fenster aufklinken, und es wird nichts dabei sein, wenn ich nicht mehr
vorübergehend guten Morgen sage. Und es war schon der 28. Mai.

Am 28. Mai konnte ich unmöglich länger bleiben. Fast ohne dass ich es gesehen
hätte, waren die Ähren auf den Feldern mannshoch und noch darüber gewachsen.
Wenn ein halbes Dutzend aufeinanderstehender Hasen durch die Felder
geschossen wäre, man hätte nicht einmal eine Ohrenspitze des letzten und obersten
gesehen. Es war ein gesegnetes Jahr, und in den Obstgärten lag der Blütenschnee
so dicht und hoch, dass man mit nackten Füssen hätte gehen können und die
Gartenerde nur wie eine ferne Wirklichkeit fühlen.

Auch sah man es den Wolken bereits an, dass sie sich nicht mehr, von Jugend und
Sorglosigkeit getrieben, auf dem Himmel herumlümmelten, sondern mit bedächtiger
Beschwer dastanden oder ihre fruchtbaren, schwellenden Leiber wälzten, um einer
Pflicht zu genügen. Am 28. Mai weiss mann bereits, was man will.

Es ist, dachte ich, so lächerlich, dass ich hier Abend für Abend vor dem Fenster
eines Mädchens wandere, das sterben wird und das ich niemals küssen kann. Ich bin
nicht mehr jung, dachte ich. Jeder Tag ist eine Aufgabe, und jede meiner Stunden
war eine Sünde am Leben.

Einmal träumte ich von einem grossen Hafen. Ich hörte ein machtvolles Klirren von
zwanzigtausend Schiffsketten und das Brüllen beschäftigter Matrosen. Ich sah, wie
schwere Kräne sich hoben und senkten, glatt und selbstverständlich und ohne Mühe,
als würden sie nicht von Menschen in Bewegung gesetzt, sondern als arbeiteten sie
aus eigenem und nach göttlichem Willen. Es war nicht der Krampf des Eisens, sondern
die leichte Gelenkigkeit natürlicher Kräfte.

Manchmal träumte ich von einer grossen Stadt, es war vielleicht New York. Ich atmete
das Rasseltempo ihres Lebens, ihre Strassen rannten gross, breit, unaufhaltsam, mit
Menschen, Fahrzeugen, Pflastersteinen, Laternenpfählen, Litfasssäulen, ich weiss
nicht, wohin und wozu. Die Stadt stand nicht, sondern lief. Nichts stand. Grosse
Fabriken qualmten aus riesigen Schornsteinen den Himmel an. In sekundenkurzen
Pausen hielt ich die Augen geschlossen, um die Melodien dieses Lebens zu hören.
Es war eine greuliche Musik; sie klang so wie die Melodie eines verrückt gewordenen,
ungeheuren Leierkastens, dessen Walzen durcheinandergeraten waren. Diese
Musik aber reizte auf. Es war nur hässlicher, nicht falscher Rhythmus. Eine Weile
schrie ich im Rhythmus mit, dann erwachte ich.

Als ich wach war, wunderte ich mich, dass ich eigentlich nicht mehr Teil der Stadt war,
sondern gänzlich losgelöst von ihr und lächerlicher Bewohner eines lächerlichen
Städtchens. Was war ich denn eigentlich? Der Mann unterm Fenster. Freund, sagte
ich zu mir, begrabe dieses Mädchen, das ohnehin nicht mehr lebt, und gibt dich mit
dem Leben ab. Wichtig ist das Leben. Es hätte vielleicht mehr Sinn (nach den gültigen
Regeln menschlicher Vernunft hätte es mehr Sinn), zu dem Mädchen hinaufzugehen
und tagsüber an ihrem Bett zu sitzen und des Abends mit ihr am Fenster und ihr ein
bisschen von dem ungeheuren Chaosrasseln mitzubringen und dem vielen roten
Blut, das durch die Adern der Welt floss.

Aber wichtiger ist das Leben.

Indem ich so grausam zu mir sprach, versuchte ich, den Schmerz zu begraben.
Ich begrub ihn unter einem Wall von Grausamkeit.

Ich fuhr in der einzigen Droschke der Stadt, in der ich gekommen war, zurück.
Anna hatte ich nichts gesagt.

Es war später Nachmittag. Die Sonne rann in goldenen, breiten Strömen. Der
Bahnhof kauerte wie eine grosse, gelbe Katze in der Sonne. Die Schienenstränge
liefen weit in die Welt, eisern umspannten sie die Erde.
Als ich im Zug sass und zum Fenster hinaussah, war ich bereits von der Stadt und
von den letzten Wochen durch Grausamkeit, Freude, Kraft getrennt.
Mochte der Briefträger sich einen Rausch antrinken, der Postmeister mit seinen
Tschinellen klirren, der Reisende nach Pomade duften. Der Kellner Ignatz feuchte
Hände haben. Anna seine Geliebte werden.

Und das Mädchen am Fenster? ...

Es kann sterben! sagte ich und schäme mich nicht zu gestehen, dass ich mich bei
dieser Gelegenheit über meine Gesundheit freute.

Was war das für eine Krankheit, in der ich die letzten Wochen zugebracht hatte?
Was war doch mein Freund Abel für ein sentimentaler Kerl? Nie, nie, nie würde
ich aus New York wegfahren einer Frau wegen.
Ja, ich will gerade jetzt nach New York fahren. Amerika ist ein herrliches Land.
Kein steinerner Bischof hat es gegründet.

Während ich so dachte, pfiff der Zug und tat einen Ruck. In diesem Augenblick
trat der lange Eisenbahnassistent mit der roten Kappe aus der Tür seiner
Amtsstube auf den Perron. Die Tür war noch eine Weile offen.

Und hinter dem Eisenbahnassistenten kam ein wunderschönes Mädchen. Es war,
es war das Mädchen vom Fenster.

"Bleib noch!" hörte ich den Eisenbahnassistenten zu ihr sagen. "Ich bin gleich
fertig!"

Das Mädchen aber hörte ihn nicht. Es sah mich an. Wir sahen uns an. Sie stand
aufrecht, im weissen Kleid, gesund und gar nicht lahm und auch gar nicht
schwindsüchtig. Offenbar war sie die Braut des Eisenbahnbeamten oder seine
Frau.

Während der Zug noch einmal anzog und leise zu rollen anfing, winkte ich und
sah dem Mädchen in die Augen. Nur dieses Blickes wegen habe ich diese
Geschichte geschrieben.

Im Kupee war mir, als hätte ich die Pflicht zu weinen.

Ich aber lachte, sah, wie auf dem Felde ein Hirt seinen Hund schlug, ein
Streckenwächter mit dem Signal strammstand, seine Frau Wäsche trocknete
und ein kleiner Landwagen auf einem Feldweg torkelte.

"Das Leben ist sehr wichtig!" lachte ich. "Sehr wichtig!" und fuhr nach New York.


- Joseph Roth 1894-1939, österreichischer Schriftsteller und Journalist -


April, die Geschichte einer Liebe
Joseph Roth im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek.








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